Felix

Es war noch im letzten Jahr, als Eva sich ihrem Johannes mitteilte. Was sie ihm sagte, nannten unsere Urgroßmütter noch ein „süßes Geheimnis", und heutige werdende Mütter teilen es als Ergebnis des Tests mit, den sie am Vorabend aus der Apotheke mit nach Hause bringen. Eva trug nicht nur den Namen ihrer und unserer aller Urmutter, sondern sie freute sich auch so, wie man es von unserer Urmutter in den sie umgebenden paradiesischen Umständen vermuten darf. Und Johannes freute sich wie Adam. Nach einiger Zeit ging Eva, um ihr und Johannes Glück abzusichern, zur Ultraschall-Untersuchung und bekam jenes Bildchen in die Hand gedrückt, welches das Leben in ihrem Innenleben zeigte. Zeigen sollte. Johannes beugte sich zu Hause über das erste Abbild seines Nachwuchses und suchte, glaubte zu finden, suchte weiter - nach Kopf und Füßen und einem dazwischen. Johannes schaute auf das Ultraschall-Bild und hinaus aus dem Fenster, wo gerade das Unwetter „Felix" am Himmel wütete und tat das, was viele werdende Väter als aktiven Beitrag zur Schwangerschaft leisten: Er philosophierte über das Leben - und die Mängel, wenn Menschen lebendiges Leben abbilden wollen. Abends gingen sie zu Evas Eltern, um ihnen das süße Geheimnis samt Ultraschall-Bild von ihrem Enkelkind mitzuteilen. Da Evas Vater leidenschaftliche Nachrichtenseher ist, warteten sie noch das Wetter ab für die Würdigung der Nachricht. Dann sagte Johannes mit einer Stimme, die aus Wörtern ein gewichtiges Wort macht. „Wir wollen Euch etwas zeigen..." und legte das Ultraschall-Bild in die Mitte auf dem Tisch, an dem alle saßen. Wir wissen nicht sicher, ob es die mangelnde Erfahrung von Evas Eltern als Großeltern war oder die Ausstrahlung, die von dem Medium eines Ultraschall-Bildes ausgeht. Oder die Fixierung von Evas Vater auf die Nachrichten, speziell Wetternachrichten. Jedenfalls reagierte der künftige Großvater schnell und interessiert, zog das Bild zu sich und seiner Frau hinüber und sagte: „Siehst Du, da kann man genau den Felix über Europa verfolgen - wunderschön sind diese Satellitenfotos!" Und erst anlässlich jener unbestimmten Art des Schweigens bei Eva und Johannes, die andere unsicher macht, fragte er vorsichtiger: „Oder ist er das nicht - Felix?" Diese Geschichte hat ein Ende, das mir heute einige Monate später mitgeteilt wurde. Und sie hat eine Moral. Zunächst das Ende: Eva und Johannes suchen Paten für ihr Kind, das - Felix heißen soll, wenn es ein Sohn bleibt, was die Ärzte aus weiteren Ultraschallwellen schließen zu können glauben. Denn so wie Evas Vater auf Wetternachrichten fixiert war, so blieben Eva und Johannes nun - mehr auf den zunächst entrüstet und enttäuscht gehörten ,,Felix" fixiert. Und freundeten sich mit ihm an, nachdem das Unwetter draußen und in ihnen vorüber war. Nun die Moral: Die „süßen Geheimnisse", die man sich früher mitteilte, waren ganz klar klarer als die Mitteilung über solch hochmoderne und missverständliche Medien wie Bilder. Zum Beispiel Ultraschall.

06. Februar 1996